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Gegner:innen und Anhänger:innen des rechten Politikers Bezalel Smotrich von der Partei Religiöser Zionismus in Tel Aviv, Oktober 2022. Foto: RLS Israel

Mit gezückter Pistole

Kaum einer kann die Parolen der Politiker auf den Plakaten noch ernstnehmen. Zum fünften Mal seit März 2019 sind am 1. November gut 6,5 Millionen Israelis aufgerufen, die 120 Abgeordneten der Knesset zu wählen. Das sorgt für viel Verdruss bei der Wählerschaft, die fürchtet, in ein paar Monaten erneut abstimmen zu müssen, weil keine neue Regierung zustande kam.

Die sogenannte Regierung des Wandels aus acht Parteien zerbrach im Juni nach kaum einem Jahr im Amt: Zu groß waren die ideologischen Differenzen zwischen dem rechten Kurzzeitpremier Naftali Bennett, der sozialdemokratischen Meretz, der islamischen Ra’am von Mansur Abbas und den vier zentristischen Parteien, die im Sommer 2021 Benjamin Netanjahu nach zwölf Jahren an der Macht aus dem Amt gedrängt hatten. Bennett dürfte künftig politisch keine Rolle mehr spielen – sein rechtes Wahlbündnis Jamina ist zerfallen; die steile Karriere seiner Verbündeten, der rassistischen Innenministerin Ayelet Shaked, ist ebenfalls vorerst gebremst.

Zerfallene Allianz

So wird die Schlussphase des Wahlkampfs zu einem Duell zwischen dem amtierenden Ministerpräsidenten, Jair Lapid, und – Netanjahu. Der Langzeitpremier will zurück an die Regierungsspitze. Der von ihm seit 2006 geführte Likud wird letzten Umfragen zufolge die größte Fraktion in der Knesset stellen. Auf 30 Sitze konnte die konservative Partei des in Korruptionsverfahren verstrickten Ex-Regierungschefs zuletzt rechnen, Lapids zentristische Yesh Atid auf 25. Gemeinsam mit den rechten Partnern aus seinen früheren Regierungen käme Netanjahu indes nicht über 60 der 120 Mandate hinaus – Lapid liegt mit seinen zentristischen und linken Partnern derzeit bei 56. Damit könnten die arabischen Parteien zum Zünglein an der Waage werden, wie im Sommer 2021, als der Ra’am-Vorsitzende Abbas seine Islamisten in die Regierung führte und Bennett wie Lapid die Mehrheit gegen Netanjahu verschaffte. Freilich ist die Gemeinsame Liste aus vier israelisch-palästinensischen Parteien, die noch 2020 geschlossen antraten, inzwischen auf zwei geschrumpft: Abbas hatte sich schon vor der Wahl 2021 aus dem Bündnis zurückgezogen, Wochen später folgte die Balad-Partei Sami Abu Shehadehs.

So treten am 1. November lediglich die bürgerliche Ta’al von Ahmad Tibi und die kommunistische Hadash von Ayman Odeh als Gemeinsame Liste an; beiden zusammen werden mit vier Sitzen so viele Mandate prognostiziert wie Ra’am allein. Balad, das noch vor zwei Jahren zum größten parlamentarischen Erfolg des arabischen Parteienbündnisses beigetragen hatte, wird die 3,25-Prozent-Grenze wohl nicht überschreiten, um in die Knesset einzuziehen.

Nicht zurückkehren in die Opposition nach einem Jahr an der Macht will die sozialdemokratische Meretz-Partei. Ihre Vorsitzende Zehava Galon meint, „ich hoffe sehr, dass Meretz auch an der nächsten Regierung beteiligt ist.“ Nur so ließe sich der anhaltende Siedlungsbau in den besetzten palästinensischen Gebieten stoppen. „Schon seit langem fordern wir, illegale Siedlungsaußenposten zu evakuieren, ihren Anschluss an das Stromnetz abzulehnen und alles zu tun, um ein Ende der Besatzung zu erreichen.“

An der linken Basis sorgte die stillschweigende Zustimmung der drei scheidenden Meretz-Minister Nitzan Horowitz, Tamar Zandberg und Issawi Frej zur expansionistischen Siedlungspolitik Bennetts und Lapids für Unmut. Zumal die Siedlergewalt im Westjordanland seit Wochen eskaliert: Gut hundert Fälle jüdisch-nationalistischer Gewalt vor allem im Norden der besetzten Westbank um Nablus gab es an zehn Tagen im Oktober.

Zehava Galon, die erst im Sommer in ihr Amtgewählt wurde, setzt trotzdem alles daran, dass eine Regierung ohne Netanjahu zustande kommt. „Alles außer Bibi“, das bleibt auch weiterhin das Credo des Anti-Netanjahu-Lagers. „In der nächsten Regierung sollten sowohl arabische als auch ultraorthodoxe Parteien vertreten. Obwohl in Fragen des religiösen Pluralismus eine große Kluft zwischen uns und den Ultraorthodoxen besteht, teilen wir Gemeinsamkeiten in sozioökonomischen Fragen. Deshalb sind wir bereit, mit ihnen zu kooperieren, um eine Rückkehr Netanjahus an die Macht zu stoppen.“

Sollte der wieder ein Kabinett bilden, könnte dieses so illiberal sein wie keins zuvor. Mit dem Rechtsextremisten Itamar Ben Gvir von der Partei Jüdische Stimme und Bezalel Smotrich vom Religiösen Zionismus treten zwei Verbündete des Langzeitpremiers mit dem Anspruch an, Ministerämter zu bekleiden. Ben Gvir verlangte Anfang Oktober von Polizisten bei einer Kundgebung in Jerusalem mit gezückter Pistole, auf Palästinenser zu schießen, die Steine werfen. Neofaschistischen Ideen zugewandt, fordert er die Zerschlagung der Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas in Ramallah und geißelt israelisch-palästinensische Politiker als „Terroristen“.

Iran kaum Thema

Auch wenn Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern nicht in Sicht sind, sprach sich Premier Lapid im September vor den Vereinten Nationen immerhin für eine Zweistaatenlösung aus – und führte im Wahlkampf wiederholt die neuen regionalen Bündnisse als Erfolg an. Noch als Außenminister hatte er Bahrein, die Vereinigten Emirate und Marokko besucht, drei der vier arabischen Staaten, mit denen Israel seit 2020 diplomatische Beziehungen aufgenommen hat. Das soeben mit dem Libanon geschlossene Abkommen über den Grenzverlauf entlang der Gasfelder vor den Küsten beider Staaten nannte er „historisch“. Netanjahu dagegen verurteilte die von den USA vermittelte Einigung als Ausverkauf an die Hisbollah.

Die Bedrohung durch den Iran spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle, ebensowenig die hohen Lebenshaltungskosten, die noch vor einem Jahrzehnt zu wochenlangem Protest auf Tel Avivs Prachtstraße, dem Rotschild-Boulevard, geführt hatten. Anders als damals gehört die heute von Verkehrsministerin Merav Michaeli geführte Arbeitspartei, die 1992 mit Yitzhak Rabin an der Spitze den Likud aus der Regierung verdrängt hatte, nicht mehr zum linken Lager, sondern zum zentristischen. „Weder das Ende der Besatzung noch die Gleichberechtigung der palästinensischen Bürger Israels stehen bei der Arbeitspartei noch hoch im Kurs“, kritisiert Meretz-Chefin Galon.

Dieser Artikel erschien am 27. Oktober 2022 in Der Freitag.

Autor:in

Markus Bickel leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2020-2023.