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Wahlplakat an einer Autobahnbrücke, Benjamin Netanyahu und Itamar Ben Gvir. "Nur mit Ben Gvir gibt es Bibi". Israel, November 2022. Foto: Shutterstock

Sieg der Siedler

Der Kampf um die Ressorts hat begonnen, drei beansprucht Bezalel Smotrich vom rechtsnationalistischen Wahlsieger Religiöser Zionismus für sich. Itamar Ben-Gvir, sein Counterpart an der Spitze des jüdisch-extremistischen Dreiparteienblocks, der künftig 14 der 120 Abgeordneten in der neuen Knesset stellt, kann auf zwei Posten im Kabinett von Benjamin Netanjahu hoffen, womöglich auf sicherheitsrelevante. Das Verteidigungs- oder das Ministerium für öffentliche Sicherheit beansprucht Otzma Yehudit für sich, der Vorsitzende der araberfeindlichen Partei Jüdische Stärke, die bei der Wahl am 1. November auf sechs Mandate kam (bis dahin saß Ben-Gvir als einziger Abgeordneter der ultranationalistischen Partei in der Knesset).

Der 46-jährige Sohn irakisch-jüdischer Eltern greift die Rechte der rund zwei Millionen palästinensischen Bürger Israels seit seiner Jugend frontal an. Die verbrachte er in derselben Enklave rechtsnationalistischer Siedler, die stets sein Wohnort blieb: Kirjat Arba, mitten in Hebron. Hier ermordete der Rechtsterrorist Baruch Goldstein 1994 29 Palästinenser. Ein Bild dieses jüdischen Extremisten hing bis vor Kurzem in Ben-Gvirs Wohnzimmer. „Tod den Terroristen“ skandierten seine Anhänger in der Wahlnacht. Wegen rassistischer Hetze und der Gewalt gegen israelische Sicherheitskräfte saß Ben-Gvir mehrfach im Gefängnis. Als jungem Mann wurde ihm der Armeedienst verwehrt, nun könnte er unter Netanjahu Minister für öffentliche Sicherheit werden.

Politisiert wurde Ben-Gvir während der Ersten Intifada Anfang der 1990er Jahre in Hebron, zunächst als Mitglied einer Splitterpartei, die eine Deportation palästinensischer Bürger Israels forderte, dann in den Reihen der Kahane-Bewegung, die später von der israelischen Regierung verboten wurde. Die EU und die USA führen deren illegal fortbestehende Organe auf Terrorlisten. Politisch setzt die Partei Jüdische Stärke auf eine rasche Legalisierung aller Siedlungen in der besetzten Westbank, was sie mit Smotrichs Religiösem Zionismus und Noam vereint, der dritten Partei in der ultrarechten Allianz. Noam-Chef Avi Maoz kündigte soeben an, sich für ein Verbot der Gay Pride in Jerusalem 2023 einzusetzen.

Verachtung der Justiz

Sollte Netanjahu seinem rechtsextremen Regierungspartner aus außenpolitischer Rücksichtnahme ein Sicherheitsressort verwehren, käme für Ben-Gvir auch das Ministerium für Bau- und Wohnungswesen in Betracht. Schließlich ist die Erteilung von Baukonzessionen der entscheidende Faktor bei der schleichenden Annexion der sogenannten C-Gebiete im Westjordanland, die 1993 mit den Oslo-Verträgen israelischer Kontrolle unterstellt worden waren – und 61 Prozent des Territoriums ausmachen. Rund 300.000 Palästinenser wohnen heute hier, dazu 400.000 israelische Siedler. Bis 2030, so das Ziel ihrer radikalsten Vertreter, sollen es eine Million sein.

Um das zu erreichen, existieren bereits Gesetzesvorhaben, die ungenehmigte Bauten der palästinensischen Bevölkerung als „feindlichen Akt“ einstufen, sanktioniert durch die Zivilverwaltung der Besatzungsmacht, die für die Kontrolle der C-Gebiete zuständig ist. „Schlacht um die C-Gebiete“ wird die Ausweitung israelischer Souveränität in den Reihen der Ultrarechten bereits genannt – nach einem Jahr, das von so viel Siedlergewalt und tödlichen Übergriffen der Israel Defense Forces (IDF) geprägt war wie seit der Zweiten Intifada vor 20 Jahren nicht mehr. Allein zwischen 2019 und 2021 zerstörten Kräfte der Besatzungsarmee im Westjordanland – im Vergleich zu illegalen Einrichtungen jüdischer Siedler – mehr als achtmal so viele palästinensische Häuser wegen angeblich fehlender Genehmigungen.

Mindestens auf ein Schlüsselressort kann auch die ultraorthodoxe Shas-Partei rechnen, die mit elf Abgeordneten die drittgrößte Fraktion der künftigen Regierungskoalition stellt. Wie die Rechtsnationalisten buhlt auch diese Gruppierung um das Transportministerium. Es ist das entscheidende Ressort, um den Ausbau von Straßen im immer dichter werdenden Siedlungsnetz in der Westbank voranzutreiben. Den Ultraorthodoxen von Shas und Vereinigtem Thora-Judentum böte es darüber hinaus die Chance, das Verbot eines öffentlichen Personennahverkehrs am Schabbat gegen liberale Verfechter eines säkularen israelischen Staates aufrechtzuerhalten.

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Wahlplakate von Arbeitspartei und Jesh Atid vor der Knesset-Wahl im November 2022. Foto: Shutterstock

Zentrales Projekt der mit neun Siedlern als Abgeordneten in der neuen Knesset vertretenen Rechtsnationalisten aber bleibt ein beschleunigter legaler Anschluss palästinensischen Gebiets an israelisches Kernland. Zudem wollen Ben-Gvir und Smotrich die bestenfalls minimalen Kompetenzen der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah weiter einschränken und die Rechte der arabischen Minderheit in Israel beschneiden, die wahrlich degradiert ist, seit 2018 das Nationalstaatsgesetz verabschiedet und Hebräisch zur alleinigen Nationalsprache erklärt wurde. Das Arabische, bis vor vier Jahren ebenfalls offizielle Sprache, fand sich mit einem nicht näher definierten Sonderstatus versehen.

Was Rechtsnationalisten und Ultrareligiöse verbindet, ist ihre Verachtung der Judikative. Netanjahu kommt das zupass: Wegen Korruption steht er seit 2020 vor Gericht. Dass die Verfahren gegen ihn eingestellt werden, bleibt ein wichtiger Antrieb für die Rückkehr in den Wohnsitz des Regierungschefs in der Jerusalemer Balfour-Straße, wo er zuletzt von 2009 bis 2021 residierte. Der Preis, den der 73-Jährige für den Pakt mit den ultrarechten Regierungspartnern zahlt: mindestens fünf Ministerposten für Smotrichs und Ben-Gvirs Leute, drei für die Ultraorthodoxen. Vorausgesetzt natürlich, dass es ihm gelingt, die Koalitionsverhandlungen mit erklärten Feinden der israelischen Demokratie erfolgreich abzuschließen.

Dieser Artikel erschien zuerst im Freitag am 10. November 2022

Autor:in

Markus Bickel leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2020-2023.