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Anti-Regierungs-Protest in Jerusalem, Februar 2023. Foto: wikicommons

Wollen sich die Palästinenser*innen an den israelischen Anti­regierungs­protesten beteiligen?

Trotz der drohenden Gefahr sind sich in Israel lebende Palästinenser*innen uneinig darüber, wie sie zu einer Bewegung stehen, die überwiegend ein Zurück zum liberalzionistischen Status Quo herbeisehnt.

Die palästinensisch-arabische Öffentlichkeit in Israel hat gemischte und vielschichtige Gefühle, was die Massenproteste gegen die geplante Justizreform der ultrarechten Regierung angeht. Einerseits lösen die hartnäckigen Proteste, bei denen hunderttausende israelische Juden und Jüdinnen Woche für Woche hartnäckig öffentliche Plätze und Straßen füllen, Wertschätzung, Nachdenken und sogar ein Quäntchen Neid aus. Andererseits ist es für Palästinenser*innen unangenehm mitanzusehen, wie etwas, das einem nationalistischen Flaggenumzug gleicht, das Land überrollt. Natürlich ist die gegenwärtige Bewegung nicht mit dem jährlichen, von gewaltvollen Zusammenstößen begleiteten Umzug am Jerusalemtag zu vergleichen. Dennoch ist es für palästinensische Bürger*innen schwierig, sich dem zionistischen Tsunami anzuschließen, der nach den vergangenen Tagen Israels ruft. Schwierig, aber nicht unmöglich.

Palästinensische Bürger*innen sind sich der Gefahr, die von der geplanten Justizreform der ultrarechten Regierung ausgeht, schmerzlich bewusst. Dass wir uns den Protesten bisher nicht angeschlossen haben, hat weder mit Gleichgültigkeit noch mit Selbstgefälligkeit zu tun. Im Gegenteil: Palästinensische Aktivist*innen und Intellektuelle führen in den sozialen Netzwerken eine rege Diskussion über die Protestbewegung und die Frage, wie wir uns dazu verhalten sollen. Und große Teile der arabischen Welt begegnen den Massenprotesten auch ohne umfassende Stellungnahme unsererseits mit Sympathie.

Die gegenwärtige Regierung löst auch bei uns Angst aus. Die Gründe dafür haben mit dem Justizsystem allerdings wenig zu tun und dürften den meisten jetzt demonstrierenden Israel*innen kaum bewusst sein. Zunächst wäre da der Umstand, dass sich ausgerechnet Itamar Ben Gvir als Minister für Nationale Sicherheit um eine der schmerzlichsten Fragen der palästinensischen Bürger*innen kümmert –Verbrechen und Waffengewalt. Ben Gvir hat nur allzu deutlich gemacht hat, dass die Zerstörung der arabischen Community ganz oben auf seiner Liste steht. Von Abrissbefehlen und Strafen für ohne Genehmigung errichtete Bauten bis hin zur Unterstützung bewaffneter jüdischer Milizen in binationalen Städten und Regionen hat der Minister gezeigt, dass er das Land für eine Neuauflage der gewaltvollen Ereignisse von Mai 2021 vorbereitet. Die feindliche Gesinnung dieser Regierung macht sich in allen Bereichen unseres Lebens aus.

Damit meine ich nicht, dass der Kampf um das Justizsystem nicht wichtig wäre. Die absehbare Flut diskriminierender und rassistischer Gesetzgebungen, die diese Reformen nach sich ziehen und die die Palästinenser*innen jeglicher rechtlichen Handhabe berauben werden, löst auch bei uns Sorge aus. Aber das israelische Justizsystem war Palästinenser*innen noch nie wohlgesonnen. Immer wieder haben sich die Gerichte in allem, was den Kern des Konflikts berührt, dem Diktat der zionistischen Philosophie unterworfen oder diese aktiv gefördert. Durch zahlreiche verworrene Urteile hat das Oberste Gericht zugelassen, dass Menschenrechte von Palästinenser*innen – insbesondere die Rechte derer, die in besetzten Gebieten leben – mit Füßen getreten werden. Und es hat zahlreiche Gesetze durchgesetzt, die auf Palästinenser*innen abzielen, die innerhalb der sog. "Grünen Linie" leben. Angesichts dieser Realität sehen viele Palästinenser*innen die Diskussionen um das Justizsystem als einen inhärent inter-jüdischen Kampf. Aus dieser Sicht versucht die Oppositionsbewegung die fiktive Idee aufrecht zu erhalten, dass Israel ein «jüdischer und demokratischer» Staat sei – eine Auseinandersetzung, in der wir Palästinenser*innen schon lange nichts verloren haben.

Drei Meinungen

Vor diesem Hintergrund haben sich in der palästinensischen Community drei Meinungslager gebildet. Das erste glaubt, dass es für uns letzten Endes von Vorteil ist, dass Israel in der aktuellen politischen Krise sein wahres Gesicht offenbart – ein Gesicht, das die Palästinenser*innen seit 75 Jahren bestens kennen. Die Vertreter*innen dieses Lagers argumentieren, dass die internationale Gemeinschaft, die die Besetzung Palästinas und die damit einhergehenden Verbrechen bis dato ignoriert hat, jetzt die hässliche Wahrheit der israelischen Demokratie erkennt, was Israels Wirtschaft und Status schwächen wird. Sie hoffen, dass so die internationale Unterstützung für das zionistische Projekt schwindet und die resultierenden Instabilitäten zu einem Staatskollaps führen. Dieser Ansicht stehen andere Palästinenser*innen kritisch gegenüber, denn sie fürchten, dass wir ohne eine einende, organisierte Bewegung am stärksten unter der Krise zu leiden haben werden. Höchstwahrscheinlich wird die zunehmende Aggressivität der neuen israelischen Regierung zu noch mehr bewaffneten Invasionen wie jenen in Nablus, Dschenin und Jerusalem führen, und der Staat wird versuchen, die Besetzung rasch und auf möglichst viele Arten zu verfestigen – auf unsere Kosten. Viele von uns können bei dem Gedanken, dass sich die israelische Regierung durch Scham vor der internationalen Gemeinschaft oder wachsende Boykottbewegungen abhalten ließe, nur noch zynisch lachen. Von der internationalen Gemeinschaft können wir bestenfalls mahnende Worte und eine vielleicht zunehmend schärfer artikulierte Besorgnis erwarten, aber keine konkreten Eingriffe.

Das zweite Meinungslager besteht aus jenen, die zu dem Schluss gekommen sind, dass unser Schicksal im Zusammenleben mit jüdischen Israel*innen besteht, auch wenn die Bedingungen fremddiktiert sind. Sie argumentieren, dass wir nun mal in diesen Staat hineingeboren wurden und das Beste aus der Situation machen müssen – auch wenn die Situation grotesk ist und dem palästinensischen Volk nur Unglück gebracht hat. Es ist und bleibt dieser Staat, der unser Leben verwaltet. Viele Anhänger*innen dieses Lagers glauben, dass wir kämpfen müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Ist es nicht so, dass das Siedlungsprinzip, nach dem die Regierung vorgeht, nicht auf Frieden, sondern Krieg aus ist? Auch diese Palästinenser*innen stehen den aktuellen Demonstrationen kritisch gegenüber. Sie denken aber, dass der Rassismus der Regierung ungleich schwerer wiegt als jener der Protestierenden. Sie sehen ihre beste Chance deshalb darin, sich den Demonstrationen anzuschließen und einen Platz für palästinensische Flaggen und Sprecher*innen zu schaffen.

Das dritte Lager sieht die Protestbewegung als historisches Moment und möchte die Gelegenheit – wie die israelische radikale Linke – nutzen, um schlichtweg alles zu verhandeln: das Verhältnis zwischen Korruption und Siedlungen, zwischen Diktatur und Besetzung, zwischen dem Gesetz des jüdischen Nationalstaates und antidemokratischer Gesetzgebung und so fort. Diese Gruppe will für Demokratie für alle auf die Straße gehen, für einen Staat für alle. Und sie glaubt, dass jetzt der Moment dafür gekommen sei, weil immer mehr Juden und Jüdinnen den Zusammenhang zwischen der Besetzung und der frappierenden jüdischen Vorherrschaftshaltung des Staates erkennen. Eines der größten Probleme für dieses Lager ist, dass die palästinensische Führung innerhalb von Israel stark beschnitten und in sich gespalten ist. Sie verfügt über keinerlei Potential, um die Gesellschaft zu mobilisieren und eigene Massenproteste gegen die Regierung und ihre diskriminierenden Apparate zu organisieren. Dieses Lager ruft nach einer mutigen neuen Führung, die eine eigene Protestbewegung zustande bringt und fähig ist, mit jüdischen Bürger*innen gemeinsame Sache zu machen – sofern diese begreifen, wer ihre wahren Partner*innen in diesem Kampf für Demokratie und Gleichheit sind.                                       

Dieser Artikel ist am 13.03.2023 ursprünglich in englischer Fassung in +972Magazine erschienen.                                                                                                                 

                                                          Übersetzung von Gegensatz Translation Collective

Autor:in

Samah Salaime ist eine palästinische feministische Aktivistin und Autorin.